Einige Leserinnen haben uns berichtet, dass ihre Männer an sexueller Unlust leiden. Was sind die typischen Libido-Killer beim Mann? Coach und Therapeut Volker Schmidt beleuchtet für uns das Thema.

Ich unterhalte mich gerne mit Volker. Insbesondere, weil er schon mehrfach mit Perspektiven und Herangehensweisen um die Ecke gekommen ist, auf die ich nie kommen würde. Volker Schmidt ist ein Grundsätze-Durchdenker, bei dem Psychologie und Philosophie nahtlos miteinander verschmelzen. Was dabei herauskommt, hat eine Tiefe und Substanz, die ich bereichernd finde. (Weitere Interviews mit Volker findest du hier, hier und hier)

Für die bessere Lesbarkeit habe ich das Interview mit Volker in drei Artikel unterteilt.

Teil 1 – Männliche Lust, weibliche Lust 

Teil 2 – Lust-Killer: Stress und Liebeskonflikte

Teil 3 – Lust-Booster: Selbstliebe und Selbsterfahrung

Hallo, lieber Volker! Lass uns über die Libido-Killer reden. Und zwar über die des Mannes. Wir haben hier bei Happy Vagina intensive Blicke auf das Lustempfinden von Frauen geworfen, wie aber ist es bei Männern? Welche Faktoren beeinflussen, wie stark oder schwach die männliche Libido ist?

Ich fürchte, ich muss deine Erwartungen enttäuschen. Ich sehe nämlich in der Tat nur wenige Unterschiede zwischen uns Männern und euch Frauen, was unsere Lust oder Unlust auf Sex angeht.

Verschiedene Lust?

Aber Frauen und Männer erleben den Sex schon ziemlich verschieden, oder nicht? Allein schon aufgrund unserer körperlichen Unterschiede.

Es stimmt natürlich: Wenn wir mal von einem typischen heterosexuellen Paar ausgehen, dann dringt der Mann bei dem, was wir so „Sex“ nennen, mit seinem Körper in den Körper der Frau ein. Wer auch nur kurz darüber nachdenkt, wird schnell darauf kommen, dass dies für die Frau einen Akt größten Vertrauens darstellt. Und das auf mehreren Ebenen.

Die Frau lässt einen Mann, der zumeist physisch stärker ist als sie selbst, mit etwas Hartem und Festem in den zartesten und verletzlichsten Teil ihres gesamten Körpers ein. Das ist schon auf eine ziemlich intensive Art und Weise sehr speziell.

Davor habe ich wirklich große Hochachtung. Vor dem Vertrauen als auch vor der Hingabe, die in diesem Aspekt der weiblichen Sexualität sichtbar und spürbar zum Ausdruck kommen. Was wir dabei leicht übersehen können, ist die andere Seite dieser Geschichte.

Verletzlichkeit als Lust-Killer?

Gibt es beim Mann eine ähnliche Verletzlichkeit?

Der erigierte Penis strahlt im Zustand der Lust nach außen hin ohne Zweifel eine Menge an Entschlossenheit, Kraft und Robustheit aus. Insgeheim jedoch weiß jeder Mann, dass dieses Körperteil ebenso der zarteste und verletzlichste seines gesamten Körpers ist. Nicht ohne Grund verweigert eben jener nicht selten den Einsatz, wenn ein Mann sich nicht sicher, nicht gewollt oder nicht geachtet fühlt – sei dies im Umgang mit seiner Partnerin oder mit dem Leben an sich.

Meiner Erfahrung nach sind wir alle in der Lust sowohl körperlich als auch psychisch allzu verletzlich. Genau damit aber haben viele von uns nie gelernt umzugehen. Geschweige denn, darüber zu sprechen. Das verunsichert uns. Und dann greifen wir nach Stereotypen.

Was meinst du mit Stereotypen genau?

Ich meine beispielsweise das Bild des triebgesteuerten Mannes, der ständig Sex will, und seiner armen Frau, die sich dieser Übergriffe tagaus tagein zu erwehren hat. Genauso schlimm: Seiner armen, frigiden Frau. Viele von uns haben, wenn sie ehrlich sind, irgendwo im Hinterkopf den Gedanken: „Sex ist etwas, das Frauen ihren Männern immer mal wieder zu geben haben, damit diese keine schlechte Laune bekommen.“ Wenn dieser Stereotyp allerdings stimmen würde, würden wir zwei dieses Gespräch wohl kaum führen.

Bedürfnisse vs. Libido

Gerade in der letzten Zeit schreiben uns Leserinnen, dass ihre Männer keinen Sex mehr wollen und fragen, wie es zu dieser Lustlosigkeit kommen kann und was Lust-Killer sein könnten?

Ich behaupte, dass die Gründe für Libido-Killer dieselben sind wie bei euch Frauen. Wir glauben gerne, Sex wäre etwas furchtbar Spezielles. Dabei folgt es denselben Regeln und Gesetzmäßigkeiten wie alles andere in unserem Leben auch. Je besser wir diese verstehen, desto leichter fällt es uns, auch Liebe und Lust als eine Art von Spiel zu betrachten.

Von welchen Grundregeln sprichst du?

Nun, in meinem Verständnis des Menschen haben wir alle ausnahmslos physisch wie psychisch dieselben Grundbedürfnisse, wenngleich in durchaus unterschiedlichen Dosierungen. Auf körperlicher Ebene sind dies beispielsweise Nährstoffe, Wärme oder Licht. In Bezug auf unsere Lust auf Sinnlichkeit und Sex für besonders relevant halte ich unsere psychischen Bedürfnisse nach Sicherheit, Leichtigkeit, Wirksamkeit, Intensität, Anerkennung und Verbundenheit.

Libido-Killer Beziehung

Alles, was wir wollen, und alles, was wir tun, basiert im Grunde darauf, dass unser System aus Körper und Psyche stets danach strebt, einen Zustand zu erreichen, in dem die Bedürfnisse von Körper und Psyche möglichst erfüllt sind. Auf der Basis unserer bisherigen Lebenserfahrungen konstruiert unser Unterbewusstsein in Anbetracht unserer aktuellen Handlungsoptionen aus offenen Bedürfnissen konkrete Wünsche. Diese Wünsche nun werden uns bewusst und lenken unser Wollen und Tun.

Das klingt kompliziert. Brich das doch mal anhand eines Beispiels für einen Libido-Killer runter.

Der Verständlichkeit halber lieber auf zwei:

Beispiel 1: Mein Körper meldet einen Bedarf an Vitamin C, woraus in meinem Bewusstsein möglicherweise Appetit auf ein Glas Orangensaft entsteht. Vielleicht aber auch auf Broccoli oder Paprika.

Die Psyche will Nähe, aber…

Beispiel 2: Meine Psyche sehnt sich nach Nähe und Verbundenheit. Mein Unterbewusstsein macht daraus dann vielleicht eine erhöhte Lust auf Sinnlichkeit oder Sex mit meinem Partner oder meiner Partnerin. Oder darauf, mit meinem Hund zu kuscheln. Oder vielleicht auch auf ein Glas Wein. Je nachdem, welche meiner aktuellen Optionen auf Basis meiner tief im Unterbewusstsein gespeicherten Erfahrungswerte das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis verspricht.

Wer macht denn solche Kosten-Nutzen-Rechnungen auf?!

Unser aller Unterbewusstsein. Jeden Tag. Tausendfach. Einige von diesen inneren Abwägungen dringen sogar in unser Bewusstsein vor.

Gerade Sex ist schließlich mehr als eine Aneinanderreihung von Handgriffen und Bewegungen, die man auf die eine oder andere Art irgendwie besser oder schlechter ausführen kann. Aus der Sicht unserer Psyche ist Sex nicht weniger als eine ebenso multi-sensuelle wie multi-emotionale Grenzerfahrung. Das Empfinden von Lust öffnet all unsere Sinne und Kanäle. Es macht uns berührbar und dadurch ja zwangsläufig auch verletzlich.

Aber Sex und Lust sind doch grundsätzlich sehr schöne Erfahrungen. Woran liegt es in deinen Augen, wenn einem Mann oder einer Frau die Lust daran verloren geht?

Was die Libido-Killer im Einzelfall sind, ist natürlich immer ganz verschieden. Meiner Erfahrung nach aber finden sich die Gründe in einem oder meist sogar mehreren von vier Kernthemen ihres Lebens.

Stress als Libido-Killer

Welche Kernthemen sind das in deinen Augen?

Das erste Stichwort zum Thema Libido-Killer, das sofort in den Sinn kommt, wenn es um fehlende Lust auf Sex geht, ist das Buzzword „Stress“. Das ist auch kaum verwunderlich. Wen Sorgen um Geld, Sicherheit oder Gesundheit plagen, dessen gesamtes System versetzt sich in eine Art von Überlebensmodus. Alles, was nicht dringend zum Überdauern und Überleben gebraucht wird, wird abrupt oder schrittweise eingestellt. Traurigerweise, aber ebenso verständlicherweise, betrifft das halt auch unsere Lust auf erotische Aktivitäten.

Und das wohl vor allem, wenn der Stress, den wir erleben, aus Konflikten mit dem Partner oder der Partnerin selbst herrührt.

Eben. Dies ist der zweite große Aspekt: Die Beziehung zwischen uns und unserem aktuellen Liebes- oder auch Sexualpartner. Es liegt auf der Hand: Ist diese Beziehung gestört, merken wir das zuallererst…

Libido-Killer fehlende Selbstliebe

…beim Sex.

Mindestens ebenso bedeutsam, aber viel leichter zu übersehen, ist auch unsere Beziehung zu uns selbst.

Stichwort: „Selbstliebe“…

Ja, das ist ein ganz großes Thema für Libido-Killer. Nicht zuletzt in einer Kultur wie der unseren, die nach außen hin bis heute massiv Wert legt auf äußeren Schein, auf Leistung und Performance. Nicht nur unser Umgang mit unserer körperlichen Unvollkommenheit spielt hier eine Rolle, sondern ebenso unser Umgang mit unseren ureigenen Gedanken, Gefühlen oder Wünschen.

Libidokiller Einstellung zu Sex

Das waren jetzt drei Kernthemen. Eines fehlt noch.

Das waren die drei, die verhältnismäßig leicht zu vermitteln sind. Die vierte Ebene ist in ihrer Bedeutung ein kleines bisschen schwerer zu fassen, weil die Wechselwirkungen, um die es hier geht, eher subtiler Natur sind. Hier geht es um unsere Beziehung zum Thema „Sexualität“ und zum Empfinden von erotischer Lust an sich. Kurz gefasst könnten wir sagen: Unsere inneren Antworten auf die Frage: „Was hat es eigentlich mit diesem Sex-Ding auf sich, und welchen Platz möchte ich ihm wohl in meinem Leben geben?!“

Und je nachdem wie die Antwort ausfällt, kann daraus ein Libido-Killer werden. Ich freue mich darauf, diese vier Kernthemen mit dir näher zu beleuchten. Fortsetzung folgt…

Volker Schmidt arbeitet als Coach, Therapeut und Mentor in den Feldern „Liebe, Partnerschaft und Sexualität“ und ist Autor des Buches „untervögelt – Macht zu wenig (guter) Sex uns hässlich, krank und dumm“.