Paar-Therapeut Volker Schmidt über das Partriachat: „Was diese Welt dringend braucht, sind nicht mehr Frauen in Führungspositionen, sondern mehr Yin.“ Was genau er damit meint, erzählt er uns im Interview.
Lieber Volker, trotz aller Erfolge der feministischen Bewegungen in den vergangenen Jahrzehnten liegt bis heute der Löwenanteil des weltweiten Vermögens, ebenso wie die allermeisten Schalthebel in Politik und Wirtschaft, fest in männlicher Hand. Die Mehrheit aller weitreichenden und folgenschweren Entscheidungen wird von Männern gefällt. Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Wir leben in einem Patriarchart. It’s a Man’s World. Wie siehst Du das?
Ich stimme dir vollkommen zu: In dieser Welt gibt es – ebenso wie bei uns im Land – noch eine Menge zu tun, wenn es darum geht, Frauen und Männer rechtlich, wirtschaftlich und sozial gleichzustellen. Es gibt also noch viel für die Rechte, die Anerkennung und die Mitgestaltungsmöglichkeiten von Frauen zu tun. Dennoch greift der Gedanke der „Männerwelt“ in meinen Augen zu kurz.
Was meinst Du?
Die meisten Männer, mit denen ich mich in den vergangenen Jahren unterhalten habe, machten auf mich interessanterweise so gar nicht den Eindruck, sich selbst für besondere Gewinnertypen zu halten. Wir richten allzu leicht unseren Finger auf „die da oben“. Was wir übersehen, ist, dass auch „die da ganz unten“ mit überwiegender Mehrheit Männer sind. Nicht nur auf den Chefsesseln sind die Männer in der Überzahl, sondern auch in den Gefängniszellen, in den Suchtkliniken und unter den Brücken. Mehr Männer als Frauen sterben, ohne jemals im Leben die erotische Liebe erfahren zu haben. Dreimal so viele Männer wie Frauen sterben in Deutschland durch die eigene Hand. Das klingt mir nicht danach, als wären Mann sein in unserer Welt per se so etwas wie ein Hauptgewinn.
Was sagt Dir das?
Ich behaupte, dass der Ansatz mehr Frauen mit Führungsposten zu betrauen, so sehr ich ihn auch vertrete, unserer Welt nicht den grundlegenden Wandel bringt, den sie ganz offensichtlich dringend braucht. Die Gründe für den aktuell desolaten Zustand unseres Planeten liegen darin, dass hinter den allermeisten Entscheidungen ein ganz bestimmtes Denken steht – eines, das statt auf Kooperation und das Entwickeln von Synergien lieber auf Konkurrenz und Eroberung setzt, statt auf gute Problemlösungen auf schnelle Problemlösungen und statt auf das Gemeinwohl auf die Ikonisierung einzelner Gewinner.
Paar-Therapeut
Viele Frauen würden nun sagen: „Typisch männlich!“
Ich weiß! (lacht) Genau an dieser Stelle liegt der große Denk- oder Interpretationsfehler. Die gerade genannten Eigenschaften könnten wir mit etwas gutem Willen auch positiver beschreiben als Klarheit, Zielfokussierung, Lösungsorientierung oder Abenteuergeist. Eingesetzt zum Guten in der Welt sind dies wunderbare Fähigkeiten. Stehen hinter ihnen allerdings selbstsüchtige Motive, bringen dieselben Fähigkeiten Leid und Zerstörung über die Welt. Und diese Fähigkeiten sind halt überhaupt nicht „typisch Mann“. Sie sind „typisch Yang“. Und das Gegenteil davon ist eben nicht „typisch Frau“, sondern „typisch Yin“.
Du verwendest hier zwei Begriffe aus dem Daoismus.
Das Bild von Yin und Yang ist leicht verständlich und daher ja auch weit verbreitet. Übrigens finden wir historische Darstellungen dieses Symbols nicht nur in Asien, sondern auch bei den alten Römern, den Etruskern und den Kelten. Ursprünglich war das sogenannte „Taijitu” eine schlichte Gegenüberstellung von polaren Qualitäten. Das I-Ging beschreibt die Polaritäten Yang und Yin als stark und schwach, gebend und empfangend, aktiv und passiv.
Aber eben auch als männlich und weiblich.
Ja, das stimmt. Leider ist der Denkfehler von „typisch männlich“ und „typisch weiblich“ vielerorts bis heute gehalten. Ich behaupte auch gar nicht, dass diese Assoziation dumm oder unplausibel wäre. Sie ist nur halt in meinen Augen nicht ganz bis zu Ende gedacht. In der Tat dringt ja der männliche Körper in der sexuellen Vereinigung in den weiblichen ein und gibt seinen Samen in sie. Die Vagina der Frau empfängt den Penis des Mannes und sein Sperma. Außerdem weiß ich aus inzwischen jahrelanger Erfahrung als Sexcoach und Paartherapeut, dass ziemlich viele Frauen (unabhängig von Alter oder Bildungsstand) es beim Sex durchaus zu lieben wissen, sich ihrem Mann bedingungslos hinzugeben und auszuliefern, von ihm genommen, ausgefüllt und schließlich mit seinem Samen beschenkt zu werden. Gerade vor meinem Hintergrund sehe ich also, dass die Zuordnung von „Yang“ zu „Mann“ und „Yin“ zu „Frau“ schon ziemlich plausibel ist. Dennoch halte ich sie für schwer toxisch.
„Toxisch“ ist ein großes Wort. Was genau meinst Du an dieser Stelle damit?
Ich meine, dass wir einen großen Fehler begehen, wenn wir die reine Beobachtung einer (durchaus bedeutenden und bemerkenswerten) statistischen Häufung zum Anlass nehmen, daraus eine allgemeingültige Regel abzuleiten. Mehr noch: eine Norm!
Eine Norm wofür?
Eine Norm dafür, was es bedeutet oder wie man zu sein hat, um „ein richtiger Mann“ zu sein oder „eine richtige Frau“. Yang steht für stark, gebend und aktiv, aber auch für rational, zielorientiert, entschlossen, fokussiert, dominant, problemlösend, leistungsbewusst und geradlinig. Wenn ein Mann in unserer Kultur diese Eigenschaften zum Ausdruck bringt, dann ist er auch „ein echter Mann“. Was aber, wenn man als Frau am liebsten geradlinig und zielorientiert denkt und dafür bekannt ist, die eigenen Projekte entschlossen anzupacken und zum Ziel zu bringen? Was für eine Frau ist man dann?
Ich weiß, worauf Du hinaus willst. Dann denken manche, man wäre „irgendwie halt so keine ganz richtige Frau“.
Ganz genau! Werfen wir nun einen Blick auf das Yin: Yin steht für weich, empfangend und passiv, aber auch für emotional, mitfühlend, anpassungsfähig, ganzheitlich, folgend, impulsiv, gemeinschaftsorientiert und hingebungsvoll. Wer als Frau diese Qualitäten verkörpert, der wird von manch anderen zwar möglicherweise abschätzig belächelt. Niemand aber würde in Frage stellen, dass eine Frau mit diesen Eigenschaften definitiv und ohne Zweifel ziemlich „typisch Frau“ ist. Was aber, wenn ein Mann sich am liebsten zart, empfindsam und mitfühlend zeigt und in der Lust viel lieber folgt als führt?
Dann würde man sagen: „Das sind halt kein richtiger Mann“.
Und ganz genau darum halte ich die Zuordnung von „typisch Mann“ und „typisch Frau“ für massiv toxisch. Das Yin, also jene Qualität, die viele von uns bislang noch mit „typisch weiblich“ gleichsetzen, übrigens hat in unserer Kultur derzeit insgesamt einen ziemlich schweren Stand.
Wer will schon schwach und passiv sein?
Niemand! Genau! Das ist das große Mantra unserer Kultur: Immer groß und stark, immer zielorientiert und leistungsbewusst, immer den Stier bei den Hörnern packen und gen Himmel schleudern – höher, schneller, weiter! Das ist es, was wir in unserer Kultur gut finden. Und tatsächlich finden wir diese innere Ausrichtung tendenziell (aber eben nur dies: tendenziell!) eher bei Männern als bei Frauen. Das Mitfühlende aber, das Sinnliche, das Ganz-Und-Gar-Im-Augenblick-Aufgehende, das Bedingungslos-Annehmende, das Widersprüchliche, Intuitive und Impulsive, die Kräfte des Yin also, betrachten viele von uns als unterentwickelt und minderwertig. Genau dies aber, so sage ich, sind Kräfte, die uns im Umgang mit den derzeitigen Problemen unseres Lebens und der Welt dringend fehlen. Darum sage ich: Wir brauchen nicht mehr Frauen an den Staats- und Unternehmensspitzen. Oder besser: nicht nur! Was wir an den Schaltstellen der Macht vor allem brauchen, ist mehr Mitgefühl und Zärtlichkeit im Umgang mit den Menschen sowie ein Verständnis von Wechselwirkungen und Synergien. Kernkompetenzen des Yin, mit denen Yang allein sich leider, wie wir allerorten unübersehbar feststellen, eher schwer tut.
Du sagst also, nicht die Männer sind das Problem, sondern ihre Art zu denken?
Unser aller Art zu denken! Wir alle wurden doch kulturell darauf geprägt, jene Persönlichkeitsmerkmale, die wir mit den Qualitäten des Yang verbinden, höher zu bewerten als diejenigen des Yin. Das gilt für Männer wie für Frauen gleichermaßen. Das Yang-Denken selbst ist dabei im Grunde gar kein Problem. Yang ist darauf ausgerichtet, die Welt zu verstehen, zu kontrollieren und nach eigenem Willen zu formen. Yang ist eine wunderbare Kraft, ohne die wir unzählige Entdeckungen und Erfindungen niemals gemacht hätten. Das Problem ist daher keinesfalls das Yang-Denken an sich, sondern unsere quasi-zwanghafte Fixierung darauf und die daraus über kurz oder lang zwangsläufig entstehende Angst vor allem Nichtlinearen, Unkontrollierbaren und Verwobenen, all jenem also, was Yin ausmacht und ist.
Wer als Frau klar und straight auftritt, ist dann einfach eine Yang-Frau…
Oder noch geschmeidiger: Eine Frau, die hier und jetzt gerade ihre Yang-Kraft zeigt. Wer versteht, dass Yin und Yang psychologische Grundmuster unseres Umgangs mit der Welt darstellen und eben nicht typisch sind für das eine oder andere Geschlecht, kann viel freier und ungezwungener zwischen diesen Haltungen oder Herangehensweisen wechseln als diejenige, die sich fragt: „Ob es wohl ok ist, wenn ich das als Frau so mache?!?“.
Im Job tough und straight, im Schlafzimmer fügsam und hingebungsvoll?
Gerne! Oder eben halt auch umgekehrt. Je nachdem, was am ehesten dazu geeignet ist, aus der Situation, in der wir uns befinden, wirklich das für alle Seiten Beste zu machen. In den meisten Fällen brauchen wir dazu – im Schlafzimmer ebenso wie im Büro – eine Mischung aus Yang und Yin. Also eben nicht Entschlossenheit oder Annahme, sondern sowohl als auch. Nicht logisch oder empathisch, sondern sowohl als auch. Nicht geben oder empfangen, sondern sowohl als auch.
Wenn es doch immer beides braucht, wie Du sagst, warum dann überhaupt die Unterscheidung?
Weil wir alle, wie ich glaube, in der Wahl unserer eigenen Herangehensweisen an unser Leben mit all seinen Herausforderungen eine gewisse Tendenz darin haben, ob wir diesen auf Yang-Art oder Yin-Art begegnen. „Ein ganzer Mann“ oder „eine ganze Frau“ zu sein bedeutet aber schließlich nicht, dass wir nur den halben Werkzeugkoffer nutzen, den wir in dieses Leben mitbekommen haben, sondern den ganzen. Und zwar bestenfalls virtuos. Dadurch, dass wir das Yin und das Yang in uns kennenlernen, mit ihnen Freundschaft schließen und damit beginnen, sie beide wirklich zu ehren, werden diese Kräfte zu unseren Verbündeten. Wir reagieren dann nicht mehr gewohnheitsmäßig auf die eine oder andere Art, sondern sind imstande, bewusst zu wählen, was die Situation, in der wir uns befinden, wirklich von uns braucht. Ein bewussterer Umgang mit Yin und Yang führt zu einer anderen Politik, zu anderem Konsum und zu einem grundlegend anderen Umgang mit Spannungen oder Konflikten. Nicht zuletzt hat Verständnis dieser Kräfte massive, und zwar positive, Auswirkungen auf unsere Sexualität.
Einen schöneren Cliffhanger könnte ich mir kaum ausdenken. Wie das Wissen um Yin und Yang unser Sexleben bereichern kann, vertiefen wir im zweiten Teil dieses Interviews. Deine „famous last words“ an dieser Stelle und für heute?
Für alle Geschlechter dieselben: Mehr Yin wagen! Und einfach mal schauen, was passiert!
Den zweiten Teil des Gespräches mit Volker Schmidt über Frauen und Männer, Yin und Yang, lest ihr hier ab nächster Woche.
Tina Molin arbeitet seit über 20 Jahren als Journalistin. Dann wurde sie Mutter – und plötzlich war ihre Lust weg. Daraus folgte der Blog „Happy Vagina“ und das Interesse an weiblicher Sexualität & Lust. Im Mai 2021 erschien ihr Buch „Endlich wieder Lust auf Sex“ (Goldmann Verlag). Tina arbeitet als Mentorin und begleitet Frauen in ihr lustvolles Leben. Sie schreibt die Kolumne „Sex ab 40“ für Stern und lebt mit Mann und Kind in Berlin. (Foto: Verena Berg)