Von „Focus“ bis „Heute“ – die Medienlandschaft berichtet über ein neues Phänomen. Beim „Dead Vagina Syndrom“ erzählen Frauen, dass sie nach häufigem und heftigem Masturbieren nicht mehr zum Orgasmus kommen – vor allem nicht mit dem Partner. Wir wollten wissen, ob das ein Hoax ist oder ein neues Symptom. Heike Melzer, Neurologin und Psychotherapeutin spezialisiert mit ihrer Münchner Praxis auf Paar- und Sexualtherapie stand uns Rede und Antwort.
Liebe Frau Melzer, im Netz kursiert das Gerücht, dass Frauen, wegen Vibratoren nicht mehr zum Orgasmus kommen können. Gibt es das wirklich?
Ja, das Phänomen gibt es, denn Sex-Toys gehören zu den sexuellen Superreizen. Einmal auf sie konditioniert, kann es schwerfallen durch Berührungen mit Zunge, Penis oder Hand beim partnerschaftlichen Sex zu kommen.
Wie kann die Vagina taub werden?
Die Vagina wird nicht taub, sondern die Rezeptoren der Klitoris gewöhnen sich an die starken Frequenzreize der Vibratoren und reagieren dann nicht mehr ausreichend stark auf natürliche partnerschaftliche Reize. Dieses Phänomen kennen wir auch von Geschmacksverstärkern und künstlichen Aromen, die dazu führen, dass die feinen Nuancen natürliche Aromen irgendwann kaum noch geschmeckt werden.
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Wie häufig kommt das Dead Vagina Syndrom vor?
Hier gibt es deutliche Variabilität unter den Frauen und es ist schwierig pauschale Angaben zu machen. Je häufiger und länger Vibratoren im Einsatz sind, umso höher ist die Chance, dass der Körper sich an die starken Reize gewöhnt und mit der Zeit für partnerschaftliche Reize abstumpft.
Hängt das von der Häufigkeit ab? Oder der Heftigkeit?
Exakt, sowohl von der Häufigkeit, der Dauer als auch von der Intensität!
Kommen die Frauen beim Solo-Sex nicht mehr zum Orgasmus? Oder bezieht sich das Dead Vagina Syndrom vor allem auf den Sex mit dem Partner?
Ganz ehrlich muss ich sagen, dass ich den Begriff des „Dead Vagina Syndroms“ unglücklich gewählt finde, denn die Vagina ist alles, aber nicht tot, auch wenn sie durch einen Vibrator in einen glücklichen Ausnahmezustand versetzt wird. Es beschreibt das Phänomen, dass wir uns durch sexuelle Superreize unsensibel machen für partnerschaftliche natürlich sexuelle Reize. Auf der anderen Seite gibt es Frauen, die schwer zum Orgasmus kommen, da kann ein Vibrator ein wahres Wunderding sein. Ich plädiere deshalb für einen selbstbewussten Gebrauch auch im partnerschaftlichen Setting, allerdings in gemäßigter Dosis, sodass der Körper sich nicht zu sehr und ausschließlich auf die Vibratoren versteift.
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Zu starke Sex-Toys als Ursache für das Syndrom?
Sex-Toys werden mit immer stärkeren Motoren hergestellt, sodass Frauen schnell kommen können. Ist das eine negative Entwicklung?
Es spielen nicht nur stärkere Motoren, sondern auch völlig neue Patente eine Rolle, wie die berührungslose Stimulation durch Über- und Unterdruck. Und ja – mit den High-Tech-Sex-Toys ist ein Orgasmus ein reines Reiz-Reaktions-Phänomen, der Frauen unabhängig von partnerschaftlichen Reizen effektstark zum Orgasmus kommen lässt. Die Entwicklung ist erst mal nicht gut oder schlecht, es kommt auf den Umgang und die Dosierung davon an. Im partnerschaftlichen Kontext genutzt, kann es Abwechslung bringen, die durchaus bereichernd sein kann. Und auch für den Solo-Sex sind die Toys eine Versuchung wert.
Müssen wir uns ernsthaft Sorgen machen und den Vibrator besser weglegen?
Ich denke mir, ähnlich wie mit Geschmacksverstärkern sollten wir bewusst mit diesen starken sexuellen Reizen umgehen. Die Dosis und Stärke ist sicherlich ein Thema, welches wir im Auge behalten sollen. Für die eine oder andere Frau ist der Orgasmus to go mit dem kleinen Sex-Toy-Boy ihrer Wahl schon zu einer Gewohnheit mit Belohnungscharakter geworden, der wenn er mit Pornos kombiniert wird, schon zu der einen oder anderen Verhaltensabhängigkeit und entsprechenden partnerschaftlichen Konflikten kommen kann.
Wie beugt man dem Dead Vagina Syndrom vor?
Sorgen Sex-Toys bei Frauen wie Porno für Männer für unrealistische Vorstellungen im Bett?
Beim Thema Toy – Penis Vergleich muss man sagen, dass der Penis mittlerweile nur Rang 2 einnimmt. Nur die wenigsten Frauen erwarten einen Cunnilingus-Turbo-Experten, der es mit dem Toy aufnimmt. Beim Thema Erwartungshaltung sorgen die Pornos für wesentlich mehr Wirbel in Bezug auf Erwartungshaltung und das, was wir wollen und überhaupt noch in der Lage sind, geben zu können. Die Messlatte ist hier entsprechend hoch adjustiert.
Wie beugt man dem Dead Vagina Syndrom vor?
Regelmäßig Exposition am lebenden Objekt ;-). Und ab und an mal das Sex-Toy in der Schublade lassen und in einen sexuellen Detox gehen, ähnlich einer Fastenzeit. Einfach mal ein paar Wochen auf den Vibrator verzichten, dann schmeckt auch die partnerschaftliche Kost wieder besser.
Wie heilt man eine taube Vulva/Vagina?
Und wenn man eine Konditionierung feststellt, wie heilt man sich dann wieder?
Das Gehirn ist neuroplastisch und die Sensibilität kann auch wieder zurückkommen, wenn man bewusst sexuelle Superreize einmal für eine gewisse Zeit beiseitelegt. Aber nicht jeder Konditionierung ist rückgängig. Das Gehirn arbeitet nach dem Prinzip: „What fires together, wires together“. Nicht alle sich gebildeten Nervenseilschaften sind reversibel. Aber die kleinen Sex-Toys bahnen sich ihren Weg in partnerschaftlichen Sex und mit der dazu notwendigen Portion Selbstbewusstsein lassen sie sich auch gut in den sexuellen Akt zu zweit einbauen.
Tina Molin arbeitet seit über 20 Jahren als Journalistin. Dann wurde sie Mutter – und plötzlich war ihre Lust weg. Daraus folgte der Blog „Happy Vagina“ und das Interesse an weiblicher Sexualität & Lust. Im Mai 2021 erschien ihr Buch „Endlich wieder Lust auf Sex“ (Goldmann Verlag). Tina arbeitet als Mentorin und begleitet Frauen in ihr lustvolles Leben. Sie schreibt die Kolumne „Sex ab 40“ für Stern und lebt mit Mann und Kind in Berlin. (Foto: Verena Berg)