Wut ist ein starkes Gefühl, das Ängste auslösen kann und daher häufig unterdrückt wird. Vor allem Frauen sind oft innerlich von ihrer Wut abgeschnitten. Alina und Lana vom „Forschungsraum Weiblichkeit” unterstützen Frauen in ihren Workshops dabei, mehr Mut zur Wut zu entwickeln. Anne van Dülmen hat mit ihnen darüber gesprochen, wie uns Wut rauslassen, helfen kann, für uns einzustehen.

Anne van Dülmen: Unterscheidet sich weibliche von männlicher Wut überhaupt? Und sind Frauen wirklich weniger oder anders wütend als Männer? 

Lana: Das Ursprungsgefühl ist das Gleiche. Es geht um Selbstschutz, um Bedürfnisse, um Grenzen. Die Wut weist einen inneren Weg, sie ist überlebensnotwendig und gehört neben Angst, Freude, Trauer und Schmerz zu den Grundgefühlen des Menschen.

Alina: Physiologisch läuft da bei Männern und Frauen das Gleiche ab. Ziel ist eine schnelle Entscheidung, ob man angreifen oder weglaufen vor dem Säbelzahntiger soll. 

Männer dürfen ihre Wut rauslassen

Lana: Der Unterschied liegt darin, wie uns der Umgang mit Wut beigebracht wurde. Männer dürfen nach den gängigen Stereotypen ihre Wut eher ausleben – das ist für sie ein gesellschaftlich akzeptiertes Ventil. Denn Wut und Aggression kann zwar zerstörerisch sein, aber bei Männern steht sie auch für Stärke und Dominanz. Wütende Frauen werden dagegen schon mal als hysterische Zicken oder Furien bezeichnet: Denen kann man nicht vertrauen, die haben ihre Gefühle nicht im Griff, die sind anstrengend. Bei solchen Vorurteilen hört man natürlich nicht zu, was diese wütende Frau zu sagen hat.

Lana Puzina (l.) & Alina Karger

Lana (l.) und Alina Forschungsraum Weiblichkeit

Ich persönlich habe den Eindruck, dass Frauen – vielleicht auch aufgrund dieser Zuschreibungen – ihre Wut oft gar nicht spüren, geschweige denn rauslassen. Was für Erfahrungen macht ihr da in eurer Arbeit?

Alina: Ja, das beobachten wir auch. Es gibt Frauen, die beim Streiten zum Beispiel nicht ihre Wut rauslassen können, sondern weinen müssen. Oder die aufgrund ihrer unterdrückten Wut mit Psychosomatik, Übergewicht oder Bluthochdruck kämpfen. Manche Frauen werden von ihren Therapeut*innen auch deshalb in unsere Workshops geschickt. 

Weibliche Wut wird versteckt

Lana: Frauen müssen oft erst einmal ihre eigene Sprache finden, mit der sie über ihre Wut sprechen können. In meiner Kindheit wurde dieses Gefühl jedenfalls nie thematisiert, meine Mutter hat ihre Wut nur versteckt gelebt. Einmal hörte ich aus dem Kinderzimmer wie Porzellan zertrümmert wurde. Ich habe zunächst gewartet bis es ruhig wurde, ging dann rüber in die Küche, sah die Scherben, meine verzweifelte Mutter mit rotem Kopf, zerzausten Haaren und Tränen in den Augen. Aber sie sagte nur: „Nichts passiert, geh wieder in dein Zimmer, mir ist nur ein Teller runtergefallen.“ Das habe ich nicht verstanden. Ich würde mir wünschen, dass wir auch mit unseren Kindern über Wut sprechen und ihnen vorleben, dass Wut nicht „weggemacht“ werden muss. Sie sollen ein Vokabular und einen Ausdruck dafür entwickeln, sodass sie sagen und zeigen können, was sie fühlen, ohne den anderen dafür unmittelbar in die Verantwortung zu ziehen oder aggressiv zu sein. 

Wut wird ja oft mit einer Explosion oder einem gewaltigen Ausbruch gleichgesetzt, also mit Kontrollverlust – das macht natürlich Angst. Aber gibt es da nicht auch Abstufungen? Wo fängt „gesunde“ Wut eigentlich an und wo hört sie auf?

Gibt es gesunde Wut?

Alina: Genau da setzen wir an: Wir arbeiten mit dem Modell der Wutspirale. Danach ist bereits eine erste Irritation schon der Anfang von Wut, nicht erst die Aggression. Wut ist ein Signal des Systems und es ist gut für mich, das wahrzunehmen. Natürlich wird es schwierig, wenn man bereits in der emotionalen Ausagierung ist. Man kann verhindern, dass es soweit kommt, wenn man bereits die Irritation als Wut wahrnimmt und sie frühzeitig zum Ausdruck bringt.

Lana: Wut hört aber auch mit der Aggression nicht auf. Niemand hat mich zum Beispiel je so wütend gemacht wie meine Tochter. Danach kamen dann Schuldgefühle und Scham hoch. Da ist man in der Wutspirale dann in der Nachbearbeitung. Der Wut-Workshop ist übrigens insofern eine gute Möglichkeit, nicht-therapeutisch diese Themen mit sich selbst aufzuarbeiten.

Ich denke bei Wut auch an ein reinigendes Gewitter. Wut rauslassen, kann ja durchaus Positives bewirken, oder?

Lana: Oh ja, oft entsteht aus Wut die Motivation, Dinge zum Guten zu verändern: Der Impuls „ich nehme das so nicht hin!“ ist sehr kraftvoll. Und neben der Aggression gegen etwas gibt es ja auch die Wut für etwas, die sogar die Kraft hat, weltweite Bewegungen anzuleiten. Weil sie nicht nur etwas bekämpfen will, sondern dazu dient, zu erheben, zu unterstützen. 

Emotion sind weder gut noch schlecht

Alina: Wir sollten auch aufhören, Emotionen in gut und schlecht einzuteilen. Wut ist ein Gefühl, genau wie Freude ein Gefühl ist. Wir können sogar lernen, das zu genießen! Es geht darum, die Wut und auch andere Gefühle erst einmal anzunehmen, so wie sie sich zeigen. Am Ende sind das alles körperliche Signale. Zum Beispiel sind die physiologischen Vorgänge beim Verliebtsein und bei großer Angst sehr ähnlich – es findet nur eine andere Bewertung statt. Die Grundpalette ist da gar nicht so groß, nur der Kontext macht dann den Unterschied.

Also brauchen Frauen mehr Mut zur Wut?

Alina: Genau! Es geht um den Mut, sich ganz authentisch zu zeigen, auch wenn das gerade gar nicht passt oder auf Widerstand stößt. Am Anfang schaffe ich es vielleicht erst einmal nur, etwas auszusprechen und verkörpere das noch nicht. Aber jedes Mal wächst der Mut zur Wut und dann stehe ich wirklich für mich ein. Für diese Erfahrung bietet unser Workshop einen geschützten Übungs- und Forschungsraum.

Wütend sein, ist auch Frauen erlaubt

Lana: Wichtig ist dabei auch zu wissen: Ich darf das, was ich fühle auch ausdrücken, ohne die Erwartungshaltung, dass der andere oder die andere mein Bedürfnis sofort erfüllen muss. Vielleicht ist das sogar ganz unmöglich, aber es ist eben trotzdem gut, das Bedürfnis zu kommunizieren. Wenn eine Grenze überschritten wird und eine Verletzung droht, ist das natürlich noch essentieller. Dann brauche ich einfach Mut zur Wut!

Was kann entstehen, wenn Frauen ihre Wut rauslassen? Wie zeigen sich die Kraft und die Schönheit von Wut?

Lana: Wenn du den Mut hast, für dich einzustehen, dann wird ganz viel frei. Dann entsteht Kreativität. Und eine authentisch wütende Frau ist wirklich sexy! Das ist nicht mehr das Mädchen, das ist eine richtig schöne, weibliche Frau. Weit entfernt von Rumgezicke und Meckern. Da zeigt sich eine starke innere Haltung: Ich stehe zu meinem Gefühl, übernehme die Verantwortung dafür und ich lebe es – stehe für mich ein. 

Alina: Eine reife Frau kann eben mit ihrer Wut umgehen, kennt ihre Bedürfnisse und kommuniziert sie, verteidigt ihre Grenzen. Ohne diese Kraft kann eine Frau keinen Erfolg haben und mit ihr kann sie Beziehungen viel authentischer leben. 

Wut raulassen, führt zu Wahrheit

Lana: Über die eigene Wut kannst du dann auch rausfinden: Worum geht es mir eigentlich? Wo ist meine innere Sehnsucht? Wo führt mein Leben hin? Was ist eine gute Entscheidung für mich? Du kannst entschlüsseln, was dein inneres System dir sagt – und dann hast du den Sinn deines Lebens erkannt und siehst deinen Weg ganz klar vor dir.

Alina: So ist es: Wut ist das Schwert der inneren Wahrheit!

Das ist ja mal ein Schlusswort! Ich danke euch für das Gespräch und den Einblick in eure spannende Arbeit.

Infos zum Forschungsraum Weiblichkeit

2014 haben Alina und Lana sich in den Kopf gesetzt, das weibliche Wutempfinden zu revolutionieren und haben dafür den „Forschungsraum Weiblichkeit“ gegründet. Seitdem geben sie online wie offline Seminare, Workshops, Vorträge, Coachings und Therapien zu den Themen „Umgang mit Wut“ und „Weibliche Qualitäten“. Alina Karger ist studierte Therapeutin (ET), Life Coach, Autorin und Seminarleiterin. Lana Puzina hat einen Master in interkultureller Kommunikation, ist Kommunikationstrainerin, Konfliktmediatorin und Coach für Organisationsentwicklung. Den nächste „Mut zur Wut“ Workshop findet am 4. September 2021 statt. 

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